unter anderem Niobe
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Hans Hoyer von Prittwitz und Gaffron

unter anderem Niobe

gehörte zusammen mit fünf weiteren Marmorköpfen zu der äußerst wertvollen Kunstladung eines Frachtschiffes, das auf dem Weg von Athen nach Rom zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. sank.

Über 2000 Jahre lang zernarbten und bearbeiteten Bohrmuscheln die Köpfe, sofern sie nicht von Schlamm und Sand geschützt waren. Sie strukturierten die glatten Gesichter in eigener Weise - bis zur Entdeckung des Schiffswracks vor der nordafrikanischen Küste im Jahre 1907.

Nun interpretierten Archäologen die Köpfe. In den Gesichtern suchte man Anhaltspunkte zu ihrer Bestimmung. Einige glaubte man auch zu erkennen: die weibliche Büste mit entblößter Brust und dem schönen Gesicht mußte Aphrodite sein, ein Kopf mit nach oben weisendem Blick zeigte wohl die Züge einer bekannten Statue der Niobe. Der antiken Sage nach verhöhnte Niobe als Mutter von vierzehn Kindern die Göttin Leto, die nur zwei Kinder Apoll und Artemis hatte. Zur Strafe töteten beide alle Niobiden (Kinder der Niobe), Niobe wurde in einen Felsen verwandelt.

Im Rheinischen Landesmuseum Bonn zeigte 1994/95 die Ausstellung "Das Wrack" unter den Funden aus dem Schiff auch die Köpfe - nicht als rudimentäre Teile von Statuen, sondern als hoch hängende Medaillons an den Wänden eines Raumes.

Inzwischen hatte man erkannt, daß Köpfe und Büsten für den Kultraum eines Heroons gearbeitet waren, also für ein Heiligtum eines mythischen oder tatsächlichen Vorfahren. So meint man, inmitten von Göttern wie Dionysos, zuständig für Wein und Fruchtbarkeit, seiner Lebensgefährtin Ariadne und Halbgöttern wie Satyr und Satyrmädchen seien die Portraits der Stifterin und des Stifters des Heiligtums aufgehängt gewesen.

Von den knapp 100 000 Besuchern der Ausstellung ist einer Dirk Otto. Zwar beeinflußt, aber doch weit über Wissenschaft und Forschung hinausgehend erkennt er die Zeitlosigkeit der Gesichter - trotz Muschelfraß und Zahn der Zeit. Er sieht in ihnen eine enge Verbindung zwischen dem Betrachter und dem antiken Menschen, nach dessen Bild die Gesichter entwickelt wurden. Den am meisten zerfressenen Kopf der Stifterin als Bildnis des antiken Menschen erkennt Otto als ein zutreffendes Abbild und Interpretation des heutigen Menschen.

In Ottos Arbeiten werden die Marmorköpfe zu Menschenbildern: so wird Satyr schlechthin der junge Mann, der den Mädels hübsche Augen macht; Niobe steht als Metapher für die Mutter, der zu allen Zeiten gewaltsam die Kinder genommen werden, wobei die Hintergründe keine Rolle spielen.

"Kunst ist fragmentarisch", sagt Otto. Die fragmentarischen Gesichter der Marmorköpfe fordern ihn zu einer Konstruktion anstelle einer Rekonstruktion heraus. Hier bestätigt er Lichtenbergs Gedanken: Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die des menschlichen Gesichts.


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© by Dirk Otto